Der Matilda-Effekt: Wie Frauen in der Wissenschaft unsichtbar werden

Erfinder, Astrophysiker oder Philosophen: In der Vergangenheit wurden wissenschaftliche Errungenschaften vor allem bekannten Männern zugeschrieben. Beiträge von Frauen blieben oftmals unsichtbar – das beeinflusst die Wissenschaftsszene bis heute.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 10. Feb. 2023, 13:13 MEZ
Maria Mitchell schaut durch ein Teleskop auf ihren Schreibtisch gen Himmel.

Maria Mitchell im Jahr 1851. Die Astronomin und Frauenrechtlerin war eine leidenschaftliche Forscherin. 1848 wurde sie als erste Frau in die American Academy of Arts and Sciences aufgenommen, ein Jahr zuvor hatte sie den später nach ihr benannten Mitchell-Kometen entdeckt.

 

Foto von Herminia Borchard Dassel, 1821-1857

Im Jahr 1945 erhielt Otto Hahn für die Entdeckung der Kernspaltung den Nobelpreis für Chemie. Seine langjährige Kollegin, die Physikerin Lise Meitner, ging leer aus – und das, obwohl ihr Wissen und ihre Arbeit unabdingbar für die preisgekrönte Entdeckung waren. 

Mit dieser Auslassung ist Lise Meitner nicht alleine. Zahlreiche Wissenschaftlerinnen erlitten im Laufe der Geschichte das gleiche Schicksal: Ihre Errungenschaften wurden in der Wissenschaftsgeschichte vergessen, ausgeklammert oder ignoriert. Diese systematische Diskrimierung ist so weit verbreitet, dass sie sogar einen Namen hat: Matilda-Effekt.

Was ist der Matilda-Effekt?

Namensgeberin des Phänomens ist die US-amerikanische Frauenrechtlerin, Aktivistin und Soziologin Matilda Joslyn Gage. Im Jahr 1870 schrieb sie ein Pamphlet mit dem Titel Woman as Inventor – Frauen als Erfinderinnen – und verurteilte die damals weit verbreitete Idee, Frauen besäßen keinen erfinderischen Drang und kein wissenschaftliches Talent: „Solche Aussagen werden leichtfertig oder unwissend gemacht. Dabei beweisen Tradition, Geschichte und Erfahrung, dass Frauen diese Fähigkeiten in höchstem Maße besitzen“, heißt es in dem Essay.

Die Aktivistin Matilda Joslyn Gage verfasste mehrere Essays und Bücher, in denen sie Kritik an der Diskriminierung von Frauen und amerikanischen Ureinwohnern sowie an der Sklaverei übte.

Foto von Fotografie aus dem 19. Jahrhundert / Wikicommons

Dieses Pamphlet fiel etwa hundert Jahre später der Historikerin Margaret Rossiter in die Hände, die seither in mehreren Büchern die Errungenschaften vergessener Wissenschaftlerinnen aufbereitet hat. In einem Essay aus dem Jahr 1993 mit dem Titel The Matilda Effect in Science nahm sie auf Gage Bezug und taufte das Phänomen der nicht beachteten Wissenschaftlerinnen auf ihren Namen. „Jüngste Arbeiten haben so viele historische und aktuelle Fälle von Wissenschaftlerinnen ans Licht gebracht, die ignoriert wurden, denen die Anerkennung verweigert wurde oder die anderweitig aus dem Blickfeld gerieten, dass hier ein geschlechtsgebundenes Phänomen vorzuliegen scheint“, schrieb Rossiter damals.

Und tatsächlich: Das Problem geht tief. „Oft ist es der Nobelpreis, den eine Wissenschaftlerin nicht bekommen hat, aber es ist viel mehr als das“, sagt Katie Hafner, Journalistin und leitende Produzentin des Podcastprojekts Lost Women of Science. „Es geht darum, nicht in einer Studie genannt zu werden; nur ein Sternchen oder eine Fußnote zu sein.“ In der Datenbank zu Lost Women of Science gibt es laut ihr Hunderte Wissenschaftlerinnen, die dem Matilda-Effekt zum Opfer fielen. „Das Problem, dass die Anerkennung nur an Männer geht, besteht schon extrem lange“, sagt Hafner. „Es ist wirklich eine Tragödie“.

Fehlende Anerkennung für Wissenschaftlerinnen

Auch bei Lise Meitner geht es um mehr als nur den Nobelpreis. Obwohl sie von ihren Eltern – vor allem von ihrem Vater – ihr ganzes Leben lang unterstützt wurde, musste sie sich als jüdische Wissenschaftlerin ihre Stellung in der Wissenschaft härter erarbeiten als ihre männlichen Kollegen. Als Otto Hahn 1945 den Nobelpreis für Chemie erhielt, wurde sie nicht nur nicht geehrt, sondern befand sich auch im Exil in Stockholm.

Dabei war das Ausmaß der Wichtigkeit von Meitners Forschung für die Entdeckung der Kernspaltung lange Zeit nicht bekannt. „Wenn man sich die Korrespondenz zwischen Hahn und Meitner ansieht, kann man aber erkennen, dass er tatsächlich nur sehr wenig von der Physik verstand“, sagt Hafner. Die Autorin Marissa Moss hat diesen Umstand aufgearbeitet und erzählt mit The Woman who split the Atom die Geschichte von Lise Meitners Kampf um ihren Platz in der Wissenschaftsgeschichte neu. Auch ihr Einsatz für den nuklearen Frieden und ihr Entsetzen darüber, für was ihre Entdeckung letztendlich  – wieder von anderen Männern – genutzt wurde, wird in dem Buch aufgegriffen.

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    “Das Problem, dass die Anerkennung nur an Männer geht, besteht schon extrem lange. Es ist wirklich eine Tragödie.”

    von Katie Hafner
    Journalistin und Produzentin von Lost Women of Science.

    Doch woher kam diese fehlende Berücksichtigung der Arbeit von Wissenschaftlerinnen überhaupt? „Ich würde sagen, das liegt daran, dass Frauen lange in Positionen waren, in denen sie nicht als Autorinnen von Studien auftreten konnten“, sagt Hafner. Das habe sich erst in den letzten Jahrzehnten langsam geändert. Davor bekamen Wissenschaftlerinnen meist nur Assistenzstellen oder arbeiteten als Sekretärinnen, wurden nicht zu Dekaninnen oder Lehrstuhlinhaberinnen ernannt. Dazu mussten sie oft zusätzlich die Rolle der Hausfrau und Mutter übernehmen und wurden generell weniger ernst genommen als ihre männlichen Kollegen.

    Ein weiterer Faktor ist laut Hafner, dass viele Frauen mit ihren Ehemännern, die ebenfalls Wissenschaftler waren, zusammenarbeiteten und dadurch oftmals zwar wichtige Arbeit leisteten, am Ende aber nicht gewürdigt wurden – die Errungenschaften wurden ihren Ehemännern oder Kollegen zugeschrieben.

    Männer im Rampenlicht

    Dabei spielte in der vergangenen Zeit wohl auch ein fehlerhaftes Verständnis von Wissenschaft eine Rolle. „Wissenschaft ist eine Gemeinschaftsleistung, und die Erkenntnisse werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben“, sagt Hafner in einer Podcast-Episode von Lost Women of Science. Lange habe aber die sogenannte Great-Man-Theory vorgeherrscht, die die Idee beschreibt, dass die Geschichte hauptsächlich von einzelnen Individuen, meist von Männern, bestimmt wird.

    In diesem Sinne wurden lange Zeit auch bahnbrechende wissenschaftliche Errungenschaften nur einem Wissenschaftler oder einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern zugeordnet – auch das waren meist Männer. „Dabei ist Wissenschaft äußerst kollaborativ“, sagt Hafner. Dass in diesem Zusammenspiel viel mehr Frauen beteiligt waren als lange anerkannt wurde, kommt aber erst langsam ans Licht. 

    So beispielsweise im Fall der Astrophysikerin Jocelyn Bell Burnell, die 1967 sogenannte Pulsars, also pulsierende Radioquellen eines Neutronensterns, entdeckte. Den Nobelpreis für Physik im Jahr 1974 bekam ihr Doktorvater Antony Hewish, der zwar gemeinsam mit Bell Burnell forschte, für die Entdeckung der Astrophysikerin aber letztendlich alleinig ausgezeichnet wurde. Auch der Mikrobiologin Esther Lederberg wurde der Gewinn eines Nobelpreises zugunsten ihres Ehemanns und zwei weiteren Kollegen versagt. 1958 gewannen Joshua Lederberg, George Wells Beadle und Edward Tatum den Nobelpreis für Medizin. Esther Lederberg, die die wichtige Forschung zur genetischen Rekombination und zum bakteriellen Erbgut leitete, saß lediglich im Publikum.

    Esther Lederberg in ihrem Labor. Die Mikrobiologin forschte lange Zeit gemeinsam mit ihrem Ehemann Joshua Lederberg und trug einen maßgeblichen Teil zu der Forschung bei, die am Ende nur Joshua Lederberg den Nobelpreis bescherte. 

    Foto von Esther M. Zimmer Lederberg

    Auswirkungen auf die aktuelle Forschung: Die Gender Citation Gap

    Trotz enormer Fortschritte im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit in der Forschung in den letzten Jahrzehnten, ist der Matilda-Effekt bis heute relevant: Nobelpreisgewinner sind noch immer hauptsächlich weiß und männlich, vor allem in den MINT-Kategorien, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Und auch abseits des Nobelpreises zeigt sich der Effekt bis heute. Während Frauen damals kämpfen mussten, um überhaupt ernst genommen zu werden, sind Überreste der misogynen Sichtweise von früher heute immer noch zu erkennen.

    Messbar ist das an der sogenannten Gender Citation Gap. Diese besagt: In wissenschaftlichen Arbeiten werden überproportional häufig männliche Forschende zitiert, während weibliche Forschende ausgelassen werden. „Der Matilda-Effekt zeigt eine erstaunliche Persistenz, und das, obwohl der Frauenanteil auf allen akademischen Karrierestufen deutlich ansteigt“, sagt Malte Steinbrink, Inhaber des Lehrstuhls für Anthropogeographie der Universität Passau und Koautor einer aktuellen Studie, die den Matilda-Effekt in der Humangeographie erforscht. Veröffentlicht werden die Ergebnisse in diesem Jahr in dem Fachmagazin GW-Unterricht.

    Mit seinen Kollegen Philipp Aufenvenne, Christian Haase und Max Pochadt untersuchte er die Unterschiede in der Häufigkeit, mit der Frauen und Männer in wissenschaftlichen Arbeiten zitiert werden. Die Ergebnisse der Studie sind eindeutig: „In der deutschen Humangeographie ist die Zitationsrate der Frauen um fast 40% niedriger“, so Aufenvenne. Das sei in anderen Disziplinen ähnlich.

    Das Forschungsteam sieht eines der Probleme in unbewussten Voreingenommenheiten: „In der Wissenschaft wird das unter dem Ansatz der role congruity theory diskutiert. Das Bild vom ,männlichen‘ Wissenschaftler ist nach wie vor gesellschaftlich prägend“, so die Forschenden. In Bezug auf die Forschung besagt diese Theorie, dass Menschen Männer in der Wissenschaft als kompetenter wahrnehmen, weil sie in das Bild passen, das sie ohnehin von einem „typischen“ Wissenschaftler haben: weiß und männlich. So zeigen Studien beispielsweise, dass die Arbeiten männlicher Autoren bis heute oft ernster genommen werden als solche, die von Frauen verfasst wurden – ein Umstand, der die Arbeit von Wissenschaftlerinnen unsichtbar werden lässt. 

    Diese sogenannten Gender Bias gibt es laut Steinbrink sowohl bei Männern als auch bei Frauen: Beide Geschlechter zitieren Wissenschaftler überproportional häufiger als Wissenschaftlerinnen – die unbewussten Vorurteile machen also oft auch vor den Wissenschaftlerinnen selbst nicht halt. 

    Wie kann man gegen den Matilda-Effekt ankämpfen? 

    Um die Ungleichheit in der Forschung auszugleichen, muss an verschiedenen Punkten angesetzt werden: Einerseits müssen Wissenschaftlerinnen sichtbar gemacht werden, die in der Vergangenheit nicht gewürdigt wurden, und andererseits muss sich ein stärkeres Bewusstsein für Ungleichheiten in der aktuellen Forschung ausprägen. „Unseres Erachtens sind insbesondere bildungspolitische Maßnahmen geeignet. Es muss um Bewusstseinsbildung und das Hinterfragen der eigenen Zitier- und Lesepraxis gehen“, so Steinbrink. Das müsse bereits in der schulischen Ausbildung beginnen: „Unsere Annahme ist: Wenn mehr Frauen gelesen werden würden, würden Sie auch mehr zitiert“, ergänzt Aufenvenne.

    Katie Hafner geht es vor allem um die Aufarbeitung vergangener Versäumnisse. „Wenn Mädchen und junge Frauen sehen, dass es ein ganzes Meer von Frauen gibt, die vor ihnen da waren und erstaunliche wissenschaftliche Leistungen erbracht haben, dann wird das in historischer Hinsicht normalisiert“, sagt sie. Das war es auch, was Margaret Rossiter mit der Benennung des Matilda-Effektes beabsichtigte: die Wissenschaftsgeschichte zu vervollständigen. Denn nur so können auch aktuelle und zukünftige Beiträge von Frauen in der Wissenschaft sichtbar gemacht werden.

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