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Antisemitismus in Frankfurt: „Die Stimmung auf der Straße ist gekippt“

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Die Leiterin der Frankfurter Lichtigfeld-Schule in Frankfurt spricht im Interview über den Schulalltag nach dem 7. Oktober, Antisemitismus und Angst.

Frankfurt – Dr. Noga Hartmann ist müde, erschöpft, ausgelaugt. Seit die Terrororganisation Hamas am 7. Oktober Israel angegriffen hat, könnte der Tag der Leiterin der Isaak-Emil-Lichtigfeld-Schule, eine staatliche anerkannte Privatschule der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, gut 36 Stunden haben, so viel hat sie zu tun. Dennoch hat sie sich Zeit genommen, um mit unserer Redakteurin Julia Lorenz über die Stimmung an der Schule, die Sorgen der jüdischen Schüler, Solidaritätsbekundungen und Antisemitismus zu reden.

Bei der Pariser Kundgebung für die Befreiung der Hamas-Geiseln während des Terroranschlags vom 7. Oktober in Israel, haben Menschen in Paris Kuscheltiere auf Bilder von den Vermissten gelegt.
Bei der Pariser Kundgebung für die Befreiung der Hamas-Geiseln während des Terroranschlags vom 7. Oktober in Israel, haben Menschen in Paris Kuscheltiere auf Bilder von den Vermissten gelegt. © IMAGO/Villette Pierrick/ABACA

Frau Hartmann, am 7. Oktober hat die Terrororganisation Hamas Israel angegriffen. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Es war Schabbat. An diesem Tag pflege ich die jüdische Tradition und arbeite eigentlich nicht. Doch plötzlich rief mich der Vorstand der Jüdischen Gemeinde an und erzählte mir von den Geschehnissen in Israel. Natürlich habe ich sofort meine Familie in Israel kontaktiert, habe den Fernseher angeschaltet und die Nachrichten geschaut. Erst da habe ich begriffen, was da eigentlich passiert war, habe das Ausmaß der Dinge verstanden. Und dann setzte die Schockstarre ein.

Was waren denn ihre ersten Gedanken?

Zunächst konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass Menschen wirklich so etwas Unmenschliches tun können. Dann habe ich aber tatsächlich auch sehr schnell an meine Schulgemeinschaft gedacht: an die Schülerinnen und Schüler und deren Familien sowie an unser Kollegium. Denn mir war klar: Sie werden viele Fragen haben.

Ihre Familie lebt in Israel. Stehen Sie in Kontakt mit ihr?

Natürlich. Es geht ihnen sehr schlecht. Es gibt ständig Raketenbeschuss. Tag und Nacht. Sie versuchen, irgendwie ihren Alltag zu meistern, aber meine Schwester hat zu mir gesagt: „Die Seele ist vernarbt.“ Dieses Massaker, dieser grenzenlose Hass übersteigt jegliche Vorstellungskraft, und ich frage mich: Haben wir Menschen eigentlich überhaupt etwas aus der Geschichte gelernt? Ich bezweifle es.

Höhere Sicherheitsmaßnahmen an jüdischer Privatschule in Frankfurt

Die Lichtigfeld-Schule ist eine staatlich anerkannte Privatschule mit Ganztagsangebot in Trägerschaft der Jüdischen Gemeinde. Ein Großteil der rund 700 Schülerinnen und Schüler ist jüdisch. Wie hat sich der Schulalltag seit dem 7. Oktober verändert?

Wir haben natürlich die Sicherheitsmaßnahmen an unserer Schule erhöht.

Können Sie sagen, welche das sind?

Nein, darüber sprechen wir nicht.

Was hat sich außerdem verändert?

Wir haben jetzt mehr Schüler und Schülerinnen an unserer Schule als zuvor. Zumindest vorübergehend. Denn wir haben etwa 30 Kinder aus Israel bei uns aufgenommen, die meisten im Grundschulalter.

Wie kam es dazu?

Einige Kinder waren hier in Deutschland zu Besuch, als die Hamas Israel angegriffen hat. Andere haben den Raketenbeschuss miterlebt und sind traumatisiert zu Verwandten nach Deutschland gekommen. Sie wollen bleiben, bis sich die Lage in Nahost beruhigt hat. Sechs der Kinder sind allerdings schon wieder nach Israel zurückgekehrt.

Gemeinsame Gespräche mit Kindern und Schulpsychologen

Könnten Sie die derzeitige Stimmung an Ihrer Schule beschreiben?

Die Stimmung an unserer Schule ist momentan nicht so ausgelassen wie sonst. Viele unserer Schülerinnen und Schüler haben Verwandte und Freunde in Israel, sind von den Ereignissen erschüttert, ebenso wie viele der Lehrkräfte.

Sprechen Sie denn mit den Kindern darüber, was passiert ist?

Ja. Wir versuchen, den Kindern Zeit und Raum zu geben, um über die Geschehnisse zu sprechen. Wir versuchen, sie mit ihren Sorgen und Nöten aufzufangen.

Wie machen Sie das?

Wir haben Versammlungen in der Aula organisiert, wo wir gemeinsam, auch mit der schulpsychologischen Beraterin, über die Ereignisse gesprochen und den Kindern erklärt haben, dass wir als Gemeinschaft stark sind und uns gegenseitig haben. Außerdem haben wir alle mit dem Gemeinderabbiner für den Frieden auf der ganzen Welt gebetet. Wir versuchen, die Not, die Trauer und die Bedrückung in eine positive Richtung zu lenken.

Spendenaktion an Frankfuter Schule für Israel

Können Sie das konkretisieren?

Um den Kindern das Gefühl zu geben, nicht ohnmächtig zu sein, sondern handlungsfähig, haben wir eine Spendenaktion für Israel ins Leben gerufen. Wir haben unter anderem warme Kleidung und Hygieneartikel gesammelt. Die erste Ladung ist bereits nach Israel verschickt worden. Sie ging an Soldaten im Süden des Landes und an obdachlos gewordene Familien. Außerdem initiierte die Schülerschaft klassenweise und reihum einen Snackverkauf in den Pausen. Den Erlös spenden sie an verschiedene Organisationen. 1800 Euro sind bereits in der ersten Woche zusammengekommen. Ich finde es großartig, dass die Kinder das machen. Auch unsere Eltern haben Spendenaktionen organisiert. So funktioniert eine Gemeinschaft.

Aber wie gehen Ihre Schülerinnen und Schüler mit dem Terrorangriff der Hamas um? Gerade die Kinder, die die Grundschule besuchen, sind ja noch sehr klein. Bekommen sie überhaupt schon mit, was da in Israel und dem Gaza-Streifen passiert?

Das ist ganz unterschiedlich. Wir haben hier Eltern, die wollen, dass wir mit den Kindern sprechen. Wir haben aber auch Eltern, die das auf gar keinen Fall wollen. Sie wollen ihre Kinder behüten und verhindern, dass sie mit so etwas Traumatisierendem in Berührung kommen. Deshalb haben wir uns in der Grundschule dazu entschieden, das Thema nicht aktiv anzusprechen. Die Kinder können aber mit ihren Sorgen zu uns kommen und wir greifen das unmittelbar auf. Dabei ist es aber wichtig, dass wir nicht auf Geiseln, Massaker und Ermordungen eingehen, sondern ganz vorsichtig, im geschützten Kreis der Klasse, über Sorgen und Ängste sprechen.

Und wie ist es auf dem Gymnasium?

Da ist es etwas schwieriger. Da bekommen die Schülerinnen und Schüler viel mehr mit. Sie haben Handys, schicken sich gegenseitig Bilder und Videos. Wir haben den Kindern aber geraten, sich so etwas nicht anzuschauen. Sie sollen ihrer Seele diese Narben ersparen. Wir arbeiten jetzt auch mit dem Kompetenzzentrum Schulpsychologie zusammen und wollen den Schülerinnen und Schülern Kurse anbieten, wo sie lernen, mit solchen Ausnahmesituationen umzugehen. Das ist auch für das Kollegium wichtig.

Warum?

Die Kollegen brauchen ebenfalls einen geschützten Raum, um Fragen zu stellen. Auch für Erwachsene ist es nicht immer leicht, die richtigen Antworten zu finden, gerade in solch einer Situation. Oft wissen die Kollegen gar nicht, wie sie damit umgehen sollen, wenn ein Kind eine Frage stellt, denn es kommen schwierige Fragen.

Jüdische Schule am „Tag des Zorns“ verwaist

Was sind das denn für Fragen?

Die Kinder fragen sich beispielsweise, warum man keine Terrororganisationen stoppt? Oder warum so viele Menschen für die Hamas demonstrieren können?

Es ist sicherlich auch nicht einfach, das Thema Nahostkonflikt im Unterricht zu behandeln.

Nein, es ist immer eine Gratwanderung, weil wir bestrebt sind, den Schülerinnen und Schülern eine normale Kindheit zu ermöglichen. Aber natürlich wird das Thema trotzdem im Unterricht behandelt. In einigen Jahrgängen haben wir das Thema jetzt sogar vorgezogen, wir gehen aber einfühlsam damit um.

Am 13. Oktober hatte die Hamas den „Tag des Zorns“ ausgerufen. Daraufhin ließen 80 Prozent der Eltern Ihrer Schule ihre Kinder an diesem Tag zu Hause. Was macht solch ein Ereignis mit Ihren Schülerinnen und Schülern?

Das war wirklich ein trauriger Tag. Die Schule war verwaist und die Kinder fragten: „Warum hasst man uns? Was haben wir getan?“ Sie können das nicht verstehen. Sie wollen doch einfach nur Kinder sein mit einer normalen Kindheit. Sie wollen dazugehören, sie sprechen deutsch, lernen wie andere Kinder auch und engagieren sich ehrenamtlich.

Ausgrenzung und Beschimpfungen gegen Frankfurter Schüler jüdischen Glaubens

Seit dem Krieg in Israel müssen jüdische Menschen auch in Frankfurt wieder um ihre Sicherheit fürchten. Sie sehen sich wieder verstärkt Antisemitismus ausgesetzt. Gab es auch schon Übergriffe gegen Schüler oder Lehrer?

Nein, nicht dass ich wüsste. Aber die Eltern haben ihre Kinder natürlich sensibilisiert. Sie sollen Davidstern und Kippa nicht mehr in der Öffentlichkeit tragen. Ich kann das verstehen. Die Stimmung auf der Straße ist dermaßen gekippt. Aus Sorge hat eine Mutter ihr nicht-jüdisches Kind sogar an einer anderen Schule angemeldet. Das ist verständlich, hat mich aber traurig gestimmt.

Woran machen Sie denn „die gekippte Stimmung auf der Straße“ fest?

Es gibt beispielsweise jüdische Schülerinnen und Schüler, die bisher andere Schulen besucht haben, diese jetzt aber verlassen und zu uns kommen wollen, weil sie dort seit dem Massaker in Israel am 7. Oktober, ausgegrenzt und beschimpft werden.

Können Sie beziffern, um wie viele Schüler es sich dabei handelt?

Es sind jetzt noch nicht viele. Aber das ist erst der Anfang.

Haben Sie weitere Beispiele für die gekippte Stimmung? Sie selbst sind auch Jüdin. Haben Sie diese selbst schon zu spüren bekommen?

In letzter Zeit gab es so viel in der Schule zu tun, dass ich kaum auf den Straßen war. Bis auf Solidaritätskundgebungen für Frieden meide ich Demonstration mit Eskalationspotenzial. Die Berichterstattung darüber war sehr bedrückend und es ist besorgniserregend, wie schnell eine tolerante multikulturelle Gesellschaft sich spaltet.

In einem Gastkommentar in unserer Zeitung kritisierte Benjamin Graumann, Vorstand der jüdischen Gemeinde, das Schweigen der anderen Schulen, das Schweigen der Universität und der Kultureinrichtungen. Immer wieder wird auch von verschiedenen anderen Menschen das Schweigen der Zivilgesellschaft angeprangert. Wie sehen Sie das? Fühlen auch Sie sich im Stich gelassen?

Andere Schulen haben uns ihre Solidarität ausgesprochen und Unterstützung zugesagt. Gleiches gilt für das Staatliche Schulamt und das Hessische Kultusministerium. Selbst unser Kultusminister, Herr Prof. Lorz, rief bei mir an und bot uns seine Unterstützung an. Sogar mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier telefonierte ich kürzlich, der wissen wollte, wie die Situation an unserer Schule ist. Das sind großartige Gesten. Auf der anderen Seite spürt man eine große Diskrepanz zwischen der Solidarität und der großen Unterstützung auf der politischen Ebene und der Realität auf den Straßen. Insofern verstehe ich genau wovon Herr Graumann sprach.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Frieden. Ruhe. Freiheit. Und wir alle müssen uns darauf besinnen, was wirklich zählt: Das Miteinander, das Du und Ich. Immerhin haben wir nur eine begrenzte Zeit zu leben. Daraus müssen wir das Beste machen.

Zur Person

Noga Hartmann ist Israelin, geboren und aufgewachsen in Tel Aviv. Nach Deutschland kam die promovierte Islam- und Religionswissenschaftlerin 1993 der Liebe wegen. Zunächst lebte sie in Berlin, war dort unter anderem Lehrerin und später auch Leiterin der Heinz-Galinski-Schule, eine staatlich anerkannte Privatschule der Jüdischen Gemeinde Berlin. In Frankfurt lebt die Mutter zweier Kinder seit 2004. Damals übernahm sie die Leitung der Isaak-Emil-Lichtigfeld- Schule.

Im Bezug auf das Geisel-Drama könnte es bald Neuigkeiten geben.

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