Deutschland und seine Parteien sind ab jetzt im Wahlkampf. Und der wird auch in den sozialen Medien stattfinden – und damit leider auch auf X, ehemals Twitter. Offenbar gibt es in der Politik immer noch zahlreiche Leute, die X für eine angemessene Plattform halten, um Wähler*innen zu erreichen. Erst vor ein paar Tagen kehrte der Vizekanzler und designierte Kanzlerkandidat der Grünen, Robert Habeck, zu X zurück, kurz danach folgte der Parteivorstand der SPD.
Aber X ist längst keine kommerzielle Plattform mehr, auf der es darum geht, mit Views und Likes Aufmerksamkeit und Reichweite zu erzeugen. Die Plattform ist unter Eigentümer Elon Musk zu einem Biotop für Desinformation und Hetze verkommen. Differenzierte Diskussionen: Fehlanzeige. Stattdessen: Empörungsspiralen, Diffamierungskampagnen und gezielte Desinformation. Eine Umgebung, in der Ministerien, Parteien und Politiker*innen, die komplexe Sachverhalte sachlich kommunizieren wollen, nur verlieren können.
Besonders alarmierend ist die Rolle von Musk als Verstärker populistischer Spaltung. Seine Interaktionen mit rechtsextremen Accounts, seine Unterstützung für antisemitische Verschwörungserzählungen und die öffentliche Verhöhnung von ohnehin diskriminierten Gruppen haben X zu einem toxischen Ort gemacht. Dass er gleichzeitig Hassrede als "freie Meinungsäußerung" verteidigt, während er kritische Journalist*innen sperrt, offenbart die Doppelmoral seiner vermeintlichen Prinzipien. Viele Menschen haben die Plattform deshalb verlassen. Auch große Konzerne wie Apple, Disney und IBM haben sich inzwischen von X zurückgezogen. Wer als Politiker*in hierbleibt oder neu dazukommt, akzeptiert diese Entwicklung und macht Hass und Diskriminierung salonfähig.
Als wäre das nicht bedenklich genug, nutzt der Tech-Milliardär Musk seine Plattform zunehmend sichtbar zur politischen Einflussnahme. Die einseitige Unterstützung von rechtsextremen Kandidaten und autokratischen Herrschern in diversen Ländern, die Manipulation von Reichweiten und das selektive Sperren kritischer Stimmen machen X zu einem Instrument der Wahlbeeinflussung. Wer glaubt, dass das nur aufs Ausland beschränkt bleibt, der irrt.
Schon jetzt kommentiert Musk Nachrichten aus Deutschland, etwa indem er Posts von deutschen Rechtsextremisten teilt oder Olaf Scholz und Robert Habeck "Narren" nennt. Klingt auf den ersten Blick harmlos und niedlich, wenn die Übersetzungsmaschine altmodische Begriffe ausspuckt. Das ist jedoch eine klare Wahlempfehlung gegen zwei Ampelparteien, mit der denkbar größten Reichweite auf X: Musk hat ein System geschaffen, in dem seine persönlichen Posts durch den Algorithmus bevorzugt werden. Kritische Stimmen gegen ihn werden dagegen weniger sichtbar gemacht.
Musks wiederholte Angriffe auf demokratische Institutionen, die Verbreitung von Wahlverschwörungstheorien im US-Wahlkampf und die systematische Untergrabung journalistischer Arbeit zeigen: Hier geht es längst nicht mehr um einen neutralen digitalen Marktplatz der Ideen. Amtsinhaber*innen, Parteien und Abgeordnete machen sich in diesem manipulierten Spielfeld zum Spielball der Launen eines sprunghaften Plattformbesitzers.
Auf X erreichen Politiker*innen nur eine Minderheit
Der Wunsch mancher Parteistrategen nach mehr digitaler Präsenz ist verständlich und sinnvoll. Doch die vermeintliche Nähe zu Bürger*innen durch X ist eine Illusion. Gerade einmal drei Prozent der Menschen in Deutschland nutzen die Plattform täglich. Bei Instagram sind es achtmal so viele, bei Facebook siebenmal so viele. Auf X diskutiert man vor allem mit Trollen, mutmaßlich aus Russland stammenden Fake-Accounts und Bots.
Natürlich brauchen Politiker*innen zeitgemäße Kommunikationskanäle. Aber fast alle sind auf anderen Plattformen bereits gut aufgestellt. Und um Journalist*innen zu erreichen, von denen viele noch auf X sind, haben Kanzlerkandidaten, Parteien und Politiker*innen professionelle Pressestellen, die klassische Medienarbeit machen können.
In Zeiten multipler Krisen braucht Deutschland Politiker*innen, die ihre Energie in Lösungen investieren – nicht in digitale Kämpfe auf einer Plattform, die von den Launen eines radikalisierten Multimilliardärs gesteuert wird und auf der Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Ableismus und Queerfeindlichkeit normal sind. Sie sollten es nicht sein.
Anfang 2019 hat Robert Habeck seinen Twitter-Account gelöscht, nachdem ein manipulativ geschnittenes Video viral ging. Statt sich in endlose Shitstorm-Schleifen zu verstricken, zog er die Reißleine. X fernzubleiben, war eine kluge Entscheidung. Ein aktuelles Beispiel ist die britische Zeitung The Guardian. Dort hat man sich dazu entschlossen, keine Beiträge und Artikel mehr auf X zu veröffentlichen. Begründung: Die Redaktion ist der Meinung, "dass die Nachteile der Präsenz auf X inzwischen die Vorteile überwiegen und dass X eine toxische Plattform ist, deren Eigentümer, Elon Musk, seinen Einfluss nutzen konnte, um den politischen Diskurs im US-Wahlkampf zu beeinflussen".
Demokratische Parteien, Politiker*innen und staatliche Stellen sollten sich daran ein Beispiel nehmen und X verlassen. Das Argument, dann blieben radikale Stimmen unter sich, ist schwach. Es gibt immer Bereiche, in denen Extremisten unter sich bleiben, wie zum Beispiel das öffentlich kaum bekannte, aber sehr beliebte Forum 4Chan, Nazi-Kneipen oder islamistische Telegram-Gruppen. Da geht man ja auch nicht hin, im Wahlkampf Leute abzuholen und mit Argumenten zu überzeugen. In die toxische Atmosphäre von X passt ein demokratischer Wahlkampf genauso wenig.
Ferda Ataman verwendet geschlechtergerechte Sprache mit dem Asterisk. Das haben wir im Text kenntlich gemacht.