Beklemmende Mikrokosmen: Chime und The Box Man

Berlinale 2024: Tilman Schumacher über zwei neue Horrorfilme der japanischen (Alt-)Meister Kiyoshi Kurosawa und Gakuryu (Sogo) Ishii in der Sektion Special.

Im wieder einmal schwer auf einen Nenner zu bringenden Programm der Berlinale-Sektion Special waren zwei japanische Horrorfilme zu sehen, die hyperstilisiert von beklemmenden Mikrokosmen erzählen und von (Alt-)Meistern des Genres inszeniert wurden. Während Kiyoshi Kurosawas (*1955) mittellanger Chime die hermetische Eigenlogik des Hitchcock-Kinos auf die Spitze treibt, lässt Gakuryu Ishii (*1957) in The Box Man die Zügel etwas lockerer und liefert einen psychedelisch wirren Superhelden- bis Monsterfilm ab, der von einem Mann handelt, dessen Lebensideal darin besteht, in einem hüfthoch quadratischen Pappkarton zu hausen.

Chime (Kiyoshi Kurosawa)

Wenn im Kopf das Glockenspiel erklingt, setzt die Mordlust ein. Chime beginnt mit einem Selbstmord und endet mit den Messerattacken eines Mannes (Mutsuo Yoshioka), dessen gespenstisch ausdrucksloses Gesicht die obligatorische Maske des Slasherfilm-Antagonisten ersetzt.

In einer Kochschule gibt eben dieser Killer, der begnadete Koch Matsuoka, zunächst einem widerwilligen Schüler Instruktionen, wie er die Zwiebeln zu schneiden hat. Kurz darauf rammt der Lehrling sich mit ruhiger Präzision – und als wäre er besessen – die Klinge vor versammelter Klasse in den Hals, kippt um und breitet eine Blutlache im durchgestylten Raum aus. Es ist eine erste Unordnung in einer Welt, die (wie in Kurosawas Filmografie so oft) als emotionslos durchgetaktete Businesswelt erscheint.

In diesen ersten Minuten werden wir, wie auch im restlichen Film, keine Erklärung bekommen, warum es passiert. Es passiert einfach – und zwar plötzlich, wuchtig, mit Schockeffekt. Rätselhaftes reiht sich an Rätselhaftes, setzt sich mehr zu einem Albtraumreigen als zu einer Handlung im herkömmlichen Sinne zusammen. Es ist, als befreie die 45-minütige Spielzeit Chime von allen narrativen Zugeständnissen.

So hat die Tat vom Beginn keinerlei Konsequenzen für die Entwicklung der Figuren (von einem ermittelnden Cop einmal abgesehen). Zu Hause angekommen, berichtet der Koch seiner Frau vom Bewerbungsgespräch im Edelrestaurant, nicht aber vom einschneidenden Erlebnis in der Lehrküche. Nicht nur das. Langsam wird uns klar, dass auch in diesem Haushalt einiges schiefläuft, die Gewalt sich auch hier bald entladen wird.

Chime ist ein Film der präzisen Handgriffe und detailreichen Oberflächen, keiner der Psychologie und Einfühlung. In Analogie zu den beim Kochkurs vermittelten Fertigkeiten ließe sich sagen: Auch er zelebriert die handwerkliche Meisterschaft, macht sie ein Stück weit – ohne je bloß kunststückhaft zu sein – zum Thema. Die Effizienz und Präzision der Stilmittel ist kaum noch steigerbar: Konstante, den Schrecken antizipierende Schärfeverlagerungen des Bildraums, zusätzlich seine Verkomplizierung durch geöffnete Türen und spiegelnde Flächen, ferner die Poesie unerklärlicher Lichtreflexe und eine Tonebene, die von surrealer Stille (etwa zu vorbeirauschenden Hochbahnen) in bedrohliches Dröhnen umschlägt. Es ist eine filmische Meisterschaft, die den Schrecken eben dadurch entstehen lässt, dass etwas nicht seh- und hörbar ist. Die Reaction Shots angstverzerrter Gesichter erzählen mehr als tausend Worte.

Hako Otoko / The Box Man (Gakuryu Ishii)

Ein dämonengleich geschminkter Protagonist (Masotoshi Nagase), der sich in die Selbstisolation eines Pappkartons begibt, vom Sehschlitz aus Minirock tragende junge Frauen bespannt und wirr-privatmythologische Notizen kritzelt: Wer bereit ist, sich darauf einzulassen, den erwartet in Gakuryu Ishiis neuem Film eine gute Zeit. The Box Man kennt kein Augenzwinkern. Er macht sich zu keinem Zeitpunkt über seine Story und seine Figuren lustig, obwohl sie sich augenscheinlich an der Grenze zum Lächerlichen bewegen. Ishiis Film ist selbstbewusst bekloppt.

Der Pappkarton steht in dieser Welt sowohl als Metapher als auch als Gegenstand physischer Eskalation da. Er verkörpert eine selbstauferlegte Isolationshaft, einen deprimierenden Schutzraum vor einer alles und jeden verschlingenden Hyper-Moderne, ist Kampfanzug, Katalysator von Perversionen – und für andere ein obskures (Fetisch-)Objekt der Begierde.

Und entsprechend der Vielgestaltigkeit des Hauptmotivs ist auch The Box Man selbst ein Genre-Mix. Wie A Different Man, Aaron Schimbergs schöner US-Indie-Streifen im diesjährigen Wettbewerb der Berlinale, stellt Ishiis Film letztlich eine Aktualisierung des altehrwürdigen Mad-Scientist-Genres dar – und weist damit Motive auf, die an die „tragischen Monster“ der Universal-Horror-Ära erinnern. Was der irre Wissenschaftler in The Box Man genau erforscht, wird allerdings, anders als bei den Vorbildern von Frankenstein & Co., nicht ganz klar. Fest steht nur, dass der fetischbeladene Arzt (Koichi Sato) in seinem Geheimlabor ein Heilmittel für seine unheilbare, wohl durch Selbstversuche induzierte Krankheit sucht. Und gerade da kommt der Pappschachtel-Superman um die Ecke. In Industrieruinen liefert er sich mit dem Lakaien des Arztes (Tadanobu Asano, unter anderem bekannt als Ishi aus Ishi the Killer, 2001) Martial-Arts-Duelle, bei denen sie sich, von Pappkartons geschützt und mit Kakteen und Stofftieren bewaffnet, durch schummrige Gänge kloppen.

In diesen Passagen nimmt Ishiis Film Fahrt auf. Die Kinetik der ersten Hälfe weicht jedoch mehr und mehr zähflüssiger Psychedelik. Der Plot kommt zum Erliegen, The Box Man kreist zusehends um die eigene Achse, lässt einen das Gefühl für Zeit und Raum verlieren (apropos Raum: irritierend ist auch, dass die Schachtel von innen weit geräumiger als von außen erscheint, eine einladende „Man Cave“…). Was zunächst noch wie ein auf verschrobene Weise jugendtauglicher Superheldenfilm anmutet (bei letterboxd.com wird bereits über neue Halloween-Kostümierungen nachgedacht), gleitet gar noch in die Sphäre des Pinku eiga hinüber, das artsy sadomasochistische Erotikfilmgenre japanischer Provenienz. Aber auch das nicht vollends. The Box Man ist an allen Seherwartungen und Genreerfordernissen vorbeiinszeniert – und damit ein Film, der auch nach einem Berlinale-Sichtungsmarathon länger in Erinnerung bleiben könnte.

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