Für die einen war die Sache ganz klar: Die Europäische Union, die Staaten haben die Impfkampagne verbockt - die Bürokratie der Europäischen Arzneimittelbehörde war zu behäbig, zu sicherheitsorientiert. Und dann seien von der EU-Kommission auch noch zu wenige Impfdosen bestellt worden und das auch noch zu spät. Man habe um den Preis gefeilscht, anstatt auf möglichst rasche Lieferung zu drängen. Der Staat hat in den Augen jener, die so argumentieren, wieder einmal versagt.

Doch was, wenn alles anders ist? Was, wenn die Konzernmanager versagt haben, die nicht rechtzeitig für die Produktion eines Impfstoffs, für den die Nachfrage gigantisch ist, gesorgt haben? Zeigt nicht ausgerechnet das Marktwirtschaftsparadies USA mit der "Operation Warp Speed", dem 18 Milliarden Dollar schweren Impfstoffprogramm, gesteuert von einem erfahrenen Pharmamanager und dem Logistikchef der U. S. Army, dass staatliche Eingriffe durchaus erfolgreich sein können?

Eine staatlich gelenkte "Not-Impfstoffwirtschaft" wird zudem nicht nur von Grünen wie Robert Habeck befürwortet, der sagt, die Regierung dürfe auch vor verpflichtenden Lizenzvergaben nicht zurückschrecken, sondern auch von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder von der CSU oder Ökonomen wie Moritz Schularick von der Uni Bonn. Auch Manfred Weber, der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, sagte Anfang Februar zur deutschen "Bild"-Zeitung: "Jede mögliche Produktionsstätte muss auf Corona-Impfstoffe umgestellt werden. (...) Zugelassene Impfstoffe müssen im Notfall auch mit einer Zwangslizenzierung von anderen produziert werden."

"Staatliche Interventionen dieser Art haben in den USA eine viel längere Tradition als in Europa", sagt der Ökonom an der WU-Wien, Harald Oberhofer, der auch regelmäßiger Kolumnist der "Wiener Zeitung" ist. Das Internet, integrierte Schaltkreise, Satelliten - eine ganze Reihe von Technologien sei im Rahmen militärischer Projekte entwickelt worden, die USA würden auch bei den Produktionskapazitäten viel strategischer agieren und hätten etwa auch zu einem frühen Zeitpunkt Exportbeschränkungen verhängt: "Die Europäische Union setzt auf den Binnenmarkt und auf Wettbewerb."

Ein weiterer Punkt, so Oberhofer, sei, dass zwei unterschiedliche Perspektiven aufeinandertreffen: Die betriebswirtschaftliche Perspektive des Pharma-Unternehmens einerseits und die volkswirtschaftliche Perspektive andererseits, die auch die "positive Externalität" des Impfstoffs im Auge behält. "Für einen Impfstoffhersteller ist es nicht so wichtig, ob die Impfungen innerhalb weniger Monate oder erst bis Ende 2022 verimpft werden. Verkauft werden die Impfdosen ja in jedem Fall", sagt Oberhofer. "Der Wert der Impfdosis ist aber volkswirtschaftlich umso höher, je schneller er verimpft werden kann. Denn umso schneller die Pandemie besiegt ist, desto geringer ist der gesamtwirtschaftliche Schaden." Prämien für schnelle Lieferungen würden die notwendigen Anreize schaffen, sagt Oberhofer. Ein solches Modell haben Clemens Fuest, Präsident des ifo Instituts (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München), und ZEW-Chef Achim Wambach (Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung an der Universität Mannheim) vorgestellt. Sie schlagen eine Prämie für jede Dosis vor, die die Impfstoffhersteller über die derzeitigen Vereinbarungen hinaus früher liefern. Dies würde Anreize setzen, die Produktionskapazitäten schneller auszubauen.

Eine zweite Variante wäre die Subventionierung von Produktionsanlagen durch die öffentliche Hand. Diese Idee hat der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, in einem "Spiegel"-Beitrag ins Spiel gebracht: Der "Push"-Faktor, also die Förderung von Forschung und Entwicklung, sei berücksichtigt worden, während der "Pull"-Faktor, also die Förderung des Baus von Produktionsanlagen, vernachlässigt worden seien.

Vorbild "Warp Speed"

Ein Vorbild ist dabei die staatliche US-Behörde Barda, die Biomedical Advanced Research and Development Authority. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat vor kurzem den Plan vorgestellt, für Europa etwas Vergleichbares aufzubauen, ein Netzwerk aus Biotech- und Pharmaunternehmen, Behörden und staatlichen Stellen, die in Zukunft schneller reagieren sollen.

Der Chefvolkswirt der ING Bank für Deutschland und Österreich, Carsten Brzeski, kann im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" der Idee durchaus etwas abgewinnen: "Was man zumindest in Deutschland immer sieht, ist, dass das Verhältnis zwischen Industrie und Staat nicht immer so einfach ist. Es gibt einerseits eine recht ordentliche Lobby - etwa der Automobilsektor -, andererseits aber doch recht deutliche Berührungsängste. Da hat die Regierung Merkel immer gesagt: Wir trennen das - hier Staat, dort der Markt." Brzeski verweist darauf, dass die Forschungsaktivitäten von staatlicher Seite zwar unterstützt worden seien, und es, nicht zuletzt bei Curevac, auch Staatsbeteiligung gegeben habe, "aber später hat der Staat sich dann eher passiv verhalten". "Wir haben ja in Europa - zum Glück! - schon lange keine Erfahrung mehr mit Kriegswirtschaft, sodass man sich nicht traut, sich in Produktionsprozesse einzumischen und dem Unternehmen aufzuoktroyieren, dass sie jetzt eben bestimmte Dingen produzieren müssen", sagt Brzeski.

Lizenzen freigeben?

Zain Rizvi, Pharma-Experte beim progressiven Thinktank Public Citizen in Washington, sagt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", der beste Weg wäre, die Pharma-Unternehmen von staatlicher Seite dazu zu bewegen, Lizenzen für ihre Präparate zu vergeben. Nach den derzeitigen Produktionsprognosen würden, so Rizvi, "hunderte Millionen von Menschen auf der Welt erst im Jahr 2023 - vielleicht sogar erst im Jahr 2024 - geimpft werden können. Das muss doch besser gehen." Die drei größten Impfstoffhersteller GlaxoSmithKline, Merck und Sanofi hätten gar keine Impfungen gegen Covid-19 am Start - nutzbare Produktionsanlagen würden brachliegen. "Die Pharma-Unternehmen diktieren den Preis und das Angebot von Vakzinen. Und das, obwohl sie hunderte Millionen oder sogar einige Milliarden an öffentlichen Geldern für die Forschung, die Entwicklung und Produktion von Vakzinen bekommen haben. Dazu haben die Regierungen hunderte Millionen von Impfstoffdosen bereits bezahlt."

Eine Freigabe von Lizenzen nütze wenig, entgegnet Sierk Poetting, operativer Geschäftsführer des Impfstoffentwicklers BioNTech, im deutschen Nachrichtenmagazin "Spiegel": "Das Rezept für den Impfstoff reicht nämlich nicht, um Sicherheit und Qualität zu gewährleisten. Sie brauchen auch, einfach gesagt, routinierte Köche. Wir haben mehr als zehn Jahre Erfahrung in der Produktion von mRNA gesammelt. Es ist nicht damit getan, an einem Bioreaktor die Temperatur richtig einzustellen, und dann funktioniert’s." Der BioNTech/Pfizer-Impfstoff gilt als derzeit wirksamster Impfstoff gegen Covid-19, erst am Freitag wurde bekannt, dass das Vakzin des Mainzer Unternehmens laut Daten der Entwickler auch bei geringeren Minustemperaturen gelagert werden als bisher bekannt - offenbar bleibt der Impfstoff auch bei einer Lagerung bei minus 25 bis minus 15 Grad für zumindest zwei Wochen stabil.

Zain Rizvi von Publi Citizen kritisiert im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", dass in der Diskussion um die Impfstoffknappheit die internationale Perspektive fehle. Für ihn ist es eine globale Herausforderung, die Weltbevölkerung möglichst rasch durchzuimpfen. Rizvi verweist auf die Im Mai 2020 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eingerichteten Covid-19 Technology Access Pool - C-TAP. In diesem Pool sollten die Covid-19-Forschungsergebnisse gebündelt und Patente geteilt werden. Nach dem WTO-Übereinkommen TRIPS (Vertrag über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum) könnten WTO-Mitglieder Konkurrenten von Patentinhabern dazu zwingen, Zwangslizenzen einzuräumen.

"Eine Pandemie ist erst dann beendet, wenn sie überall auf der Welt beendet ist", betont der Österreicher Marcus Bachmann, humanitärer Berater von Ärzte ohne Grenzen. "Wir befürchten eine unnötige Verlängerung der Corona-Pandemie, da die einkommensschwächsten Länder des globalen Südens keinen Zugang zu ausreichend Impfstoffen haben. Aus heutiger Sicht kann nur ein verschwindender Teil der Menschen im globalen Süden 2021 geimpft werden, schuld daran ist die gravierende Ungleichheit bei der Beschaffung von Impfstoffen."

Reiche Industrienationen würden einen Großteil der Impfstoff-Vorräte für sich reklamieren. Mehr als 50 Prozent der Impfstoffe, die 2021 produziert werden, sind für den globalen Norden reserviert. Und dieses Ungleichgewicht erhöht sich sogar noch durch weitere Lieferverträge, die laufend abgeschlossen werden." WU-Ökonom Oberhofer meint, es wäre eine gute Idee gewesen, wenn die reichen Industrienationen von Anfang an viel größere Mengen bestellt hätten - die nicht benötigten Dosen könnte man an die Länder des globalen Südens spenden.