Gastkommentar

Der Krieg ist für die Ukrainer eigentlich nicht auszuhalten – und doch müssen der Alltag und das Leben weitergehen

Krieg gilt im vom Frieden verwöhnten europäischen Westen als Denkunmöglichkeit, und noch viel schwerer ist es, sich vorzustellen, was es existenziell bedeutet, wenn die Welt aus den Fugen gerät und alle Sicherheiten sistiert sind. Ebendies erleben die Ukrainer heute.

Christoph Brumme 18 Kommentare 4 min
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Müde, einfach nur müde: ein ukrainisches Paar im Park der Kathedrale der Heiligen Sofia in Kiew.

Müde, einfach nur müde: ein ukrainisches Paar im Park der Kathedrale der Heiligen Sofia in Kiew.

Jae C. Hong / AP

Eigentlich müssten die Menschen in der Ukraine immerzu weinen, schreien, heulen, hassen, angesichts der grauenhaften Tatsachen des Krieges. Das wären normale menschliche Reaktionen. Aber selbst ein Ozean aus Tränen würde nicht ausreichen, um die Schmerzen auszudrücken, die sich inzwischen in den Seelen angestaut haben.

Also erträgt man die gruslige «Normalität» irgendwie, weil man keine andere Wahl hat. Den ersten Luftalarm wird man wohl nie vergessen, doch nach mehreren tausend reagiert man auf das Heulen der Sirenen meistens nur noch mit einem unterdrückten Fluch. Bei alltäglichen Geräuschen zuckt man jetzt mitunter zusammen, denn leicht erinnert das Pfeifen eines Wasserhahns an das Zischen anfliegender Raketen.

Für den Kämpfer mit dem Rufnamen «Wiking» vom Bataillon Donbass ist es normal geworden, nachts im Schützengraben «zu arbeiten» und tagsüber an der Universität Psychologie zu studieren. Zu den Prüfungen wird er von den Kämpfen freigestellt und umgekehrt. Das Studium hilft ihm – so sagt es «Wiking» im Gespräch –, den Schrecken und das Grauen zu ertragen. Seit mehr als neun Jahren kämpft er nun schon in den vordersten Linien, ein Mal wurde er schwer verletzt, zwischendurch heiratete er.

Die letzte Granate für sich selber

Jetzt ist es normal, das Schiessen und Töten Arbeit zu nennen. Man sollte auch diese Arbeit entspannt verrichten, erzählt der Drohnenpilot Olexander dem «Kyiv Independent». Seine tödliche Aufgabe mache ihm Spass, denn «wenn es Spass macht und man sich entspannt, ist es einfach. Wenn Sie angespannt sind, ist es nicht möglich, richtig zu arbeiten.»

Für die Kämpfer vom tschetschenischen Bataillon Dudajew ist es normal, die letzte Granate für sich selbst aufzuheben. Lieber wählten sie den Tod, sagen sie, als in russische Kriegsgefangenschaft zu geraten und von den Feinden gefoltert und erniedrigt zu werden.

Wer in Odessa nicht fürchtet, von angeschwemmten Minen zerfetzt zu werden, kann entspannt baden.

Das ukrainische Gesundheitsministerium schätzt, dass fast die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung inzwischen eigentlich psychologische Unterstützung benötigte. Angst, Schlaflosigkeit und Depressionen werden als häufigste Probleme genannt. Die Präsidentengattin Olena Selenska sagt, dass der Preis der «Unbesiegbarkeit» der Ukraine nicht nur das Leben von Militärangehörigen und Zivilisten sei, sondern auch die psychische Gesundheit der gesamten Nation.

Faktisch alle Ukrainerinnen und Ukrainer haben ihnen nahestehende Menschen an der Front, um deren Überleben sie bangen. Die Wirtin Lena weint im Biergarten in Poltawa über den Tod ihres 33-jährigen Neffen Kostja, dessen sterbliche Überreste von den Ukrainern drei Monate lang nicht geborgen werden konnten, obwohl sie sie über ihre Drohnen zu sehen bekamen. An seinem 34. Geburtstag ehrt ihn die pädagogische Hochschule, an der er studierte, als Helden. An einer Strassenkreuzung wird sein Konterfei für einige Tage auf einer Reklamefläche gezeigt. Helden sterben nie – ein schwacher Trost für die Angehörigen.

Selbst banale Normalität wirkt im Krieg manchmal bizarr, etwa wenn im sonst belebten Stadtzentrum nur eine Frauenbrigade zu sehen ist, die einen sauberen Fussweg fegt. Fast alle Geschäfte und Restaurants sind wegen der russischen Angriffe geschlossen und vernagelt, seit Tagen geht kaum jemand spazieren, niemand hat Müll hinterlassen. Aber der Reinigungsplan der Stadt soll eingehalten werden, erklärt die Brigadierin, denn sonst erhielten die Frauen keinen Lohn.

Scheinbar entspannt

Manche ausländischen Besucher staunen, dass die Menschen sich auch im Krieg erholen, scheinbar entspannt in Restaurants sitzen, sogar manchmal lachen und tanzen. Doch immerzu an die Gefahren und an das Leid zu denken, das hält man im Kopf nicht aus. So freut man sich einfach, dass jetzt in Odessa wieder mehrere Strände zugänglich werden. Wer nicht fürchtet, von angeschwemmten Minen zerfetzt zu werden, kann entspannt baden.

Auch im Krieg ist es moralisch gerechtfertigt, Momente des Glücks zu empfinden. Und lebensnotwendig ist es auch. Der Kämpfer «Wiking» und seine Kameraden vom Bataillon Donbass mussten monatelang mehrmals pro Nacht mit ihrem Jeep auf einer Landstrasse fahren, die von den Russen regelmässig beschossen wurde. Nach jeder Fahrt empfanden sie es als reines Glück, die «Lotterie des Todes» überlebt zu haben.

Menschen lieben sich auch im Krieg, viele heiraten und zeugen Kinder. Künstler malen weiterhin Bilder, Musiker schreiben neue Lieder und spielen sie auf Konzerten und verschaffen sich und dem Publikum Glücksmomente. 6500 Kunstveranstaltungen konnten im letzten Jahr allein in der Oblast Poltawa durchgeführt werden.

Das gemeinsam zu ertragende Leid lässt die Menschen respektvoller und höflicher miteinander umgehen als vor dem «Grossen Krieg». Ob der Albtraum jemals enden wird, das steht in den Sternen, realistisch betrachtet. «Es wird enden, wie es immer endet – indem es endet», mit diesem Satz hat der ukrainische Präsident Selenski alles Wichtige zu diesem Thema schon vor einem Jahr gesagt.

Der Schriftsteller Christoph Brumme, 1962 im ostdeutschen Wernigerode geboren, lebt seit 2016 in der ostukrainischen Stadt Poltawa. 2019 ist erschienen: «111 Gründe, die Ukraine zu lieben. Eine Liebeserklärung an das schönste Land der Welt».


18 Kommentare
J. V.

Ein gelungener Gastkommentar der für einmal die menschlichen Aspekte dieses Krieges in der Ukraine in den Vordergrund rückt.Was die Menschen in den vom Krieg betroffenen Regionen alles erleiden müssen, ist für uns Westeuropäer oft nicht leicht nachvollziehbar.

Peter Stratenwerth

Grossen Dank Christoph Brumme! Auch uns, die wir das Kriegsgeschehen in der Ukraine aus der Ferne täglich verfolgen, würden lieber weinen, als alles  in der Seele aufzustauen. Ihr Beitrag erlaubt es, die Schleusen einfach mal zu öffnen und nur zu weinen. Danke. Peter Stratenwerth