Gastkommentar

Würde des Helfens, Rausch des Tötens – der Ukraine-Krieg treibt das Beste, aber auch das Übelste in den Menschen hervor

Seit zwei Jahren herrscht in der Ukraine Krieg, doch auch wenn man als Beobachter die Berichterstattung intensiv verfolgt, hat man noch keinen Begriff davon, was es heisst, unter Kriegsbedingungen zu leben. Es verschieben sich die Realitäten, im Guten wie im Schlechten.

Christoph Brumme 70 Kommentare 4 min
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Kaum geboren und schon im Krieg – Kleinkinder in der ukrainischen Bergbaustadt Pokrowsk.

Kaum geboren und schon im Krieg – Kleinkinder in der ukrainischen Bergbaustadt Pokrowsk.

Dominic Nahr / NZZ

Alle Ukrainer sind inzwischen Militärspezialisten. Sie singen Lieder über Drohnen, kennen die Reichweiten von Haubitzen, hoffen auf die Lieferung von Kampfflugzeugen und Artilleriemunition, insbesondere vom Kaliber 155 mm. «Heutzutage wissen alle ukrainischen Kinder, wie viele Taurus-Marschflugkörper die Deutschen haben und dass sie uns keine abgeben wollen», erzählt ein Mann in einer Bierstube in Poltawa. «Sogar die Kinder im Kindergarten reden schon darüber.» Früher sprach man beim Bier mehr über Fussball oder Frauen, jetzt über die Bereitschaft zum Kämpfen und zum Sterben.

Alle machen ungeahnte Erfahrungen, lernen sich neu kennen. Die ukrainische Bloggerin Jewelina erklärt einem Russen, warum sie sich freut, wenn es regnet. Früher hat sie die Sonne geliebt, jetzt nicht mehr. «Weil uns die Russen in Odessa nicht bombardieren, wenn der Himmel bedeckt ist.»

Kein Durchschlafen mehr

Die Kämpfer an den Fronten haben hingegen gelernt, dass sie vor Kampfeinsätzen möglichst wenig essen sollen. Denn eine Notdurft an der «Kontaktlinie» zu verrichten, ist oftmals lebensgefährlich. Bauchschüsse sind bei vollem Magen auch gefährlicher als bei leerem.

Wenn die Sirenen in den Städten heulen und Apps vor anfliegenden Raketen warnen, dann heulen auch die Hunde. Vielleicht wittern sie die Gefahr, vielleicht wollen sie bloss die Lärmhoheit behaupten. Es ist normal geworden, nachts nicht schlafen zu können, weil die Sirenen einen wecken oder weil man erwartet, von ihnen geweckt zu werden. Menschengemachter Tod entlädt sich laut knallend über einer Stadt, Abschuss oder Einschlag einer Rakete, da beginnen selbst Atheisten zu beten.

«Mein Leben heute ist durchaus schön», sagte der ukrainische Präsident Selenski in einer Pressekonferenz.

Ein Mann aus Charkiw erzählt, er habe sich nach der Bombardierung seines Hauses entscheiden müssen, ob er seine Katze oder seinen Computer rettet; er entschied sich für die Katze. Eine Gynäkologin aus Tschernigiw berichtet, wie sie und ihre Kolleginnen im Krankenhaus auch bei Artilleriebeschuss Neugeborene zur Welt gebracht hätten – und sich wunderten, dass am ersten Kriegstag nur Mädchen geboren wurden.

Bevor man den Gegner besiegen kann, muss man zunächst einmal die eigene Angst besiegen, die Angst vor dem Sterben, vor Gefangenschaft und Folter. Die Gewissheit der eigenen Stärke verleiht ungeahnte Kräfte. Man empfindet Genugtuung, Dankbarkeit, Freude und sogar Glück, wenn man sich von einem feuerspeienden Drachen nicht in die Flucht schlagen lässt.

Nie zuvor waren so viele Ukrainer stolz auf ihre Kultur, nie wurden mehr Lieder über die Liebe zu dieser Heimat gesungen. Mehr denn je weiss man es zu schätzen, in einem freien Land zu leben, in dem trotz Kriegsrecht die Politik der Regierung kritisiert und gegen sie demonstriert werden kann. Im Land des Todfeinds wird man für das Vorlesen der Verfassung oder für das Hochhalten eines leeren Blatts Papier auf einem öffentlichen Platz eingebuchtet.

Abgrundtiefe Grausamkeit

Ukrainer brauchen keine Übersetzer, um die abgrundtiefe Grausamkeit und die Vernichtungsphantasien des Feindes zu verstehen. Seine zahllosen Verbrechen beweisen, wes Geistes Kind er ist. Ein russischer Pilot fordert seine Mutter am Telefon auf, ihr Haus und ihre ukrainische Heimatstadt zu verlassen, denn er müsse Raketen dahin schiessen. Nur der Zar ist in Russland heilig, seine Befehle ersetzen das Gewissen und die Liebe zur eigenen Mutter. Auch die Gier darf als kriegstreibender Instinkt nicht unterschätzt werden.

Eine Russin aus St. Petersburg erzählt einem ukrainischen Blogger, dass ihr Mann und ihr Sohn in der Ukraine kämpfen, und sie wisse schon, was sie von den Prämien für die Hinterbliebenen kaufen wird, falls die beiden «fallen» sollten. Viele russische Kriegsgefangene erklären ihre Motivation für die Bereitschaft zum Töten mit der guten Bezahlung. Nein, keiner will getötet haben, lieber bilden sie sich ein, den Ukrainern zu helfen, sie von der Unterdrückung durch ein «faschistisches Regime» zu befreien.

Mordlust mit Moral gepaart ist ein Fest für Sadisten. Ein junger russischer Freiwilliger erzählt in einem Strasseninterview begeistert, dass er im Krieg ungestraft töten könne und dafür vom russischen Staat noch gut bezahlt werde. Das Video mit seinen Aussagen ging in den sozialen Netzwerken viral.

Aufgrund solcher Verhaltensweisen ist der Vorschlag des Ministerkabinetts der Ukraine, für einen Zeitraum von fünfzig Jahren alle Strassen-, Schienen-, Luft- und Seeverkehrsverbindungen mit Russland zu kappen, nicht nur Symbolpolitik. Die Vorstellung, dass der Krieg vielleicht einmal enden wird, kann man gar nicht zulassen, weil das Bewusstsein, ihn jetzt und wohl noch für lange Zeit ertragen zu müssen, dann zu schmerzhaft wäre.

Die Schrecken des Krieges sind leichter zu ertragen durch sinnvolle Tätigkeiten. «Mein Leben heute ist durchaus schön», sagte Präsident Selenski in einer Pressekonferenz. «Ich habe das Gefühl, gebraucht zu werden. Ich denke, der Hauptzweck im Leben ist, benötigt zu werden, nicht nur eine Leerstelle zu sein, die atmet, herumläuft und isst. Im Leben zu wissen, dass bestimmte Dinge davon abhängen, dass man existiert, und das Gefühl zu haben, dass das eigene Leben für andere wichtig ist.»

Goldene Worte, die wohl für die meisten Ukrainer heute gelten.

Der Schriftsteller Christoph Brumme, 1962 im ostdeutschen Wernigerode geboren, lebt seit 2016 in der ostukrainischen Stadt Poltawa. 2019 ist erschienen: «111 Gründe, die Ukraine zu lieben. Eine Liebeserklärung an das schönste Land der Welt».


70 Kommentare
Wolfgang Krug

Es ist zutiefst deprimierend, dass Lüge und Schlechtigkeit die Welt so ungestraft dominieren dürfen. Dass ein Verbrecher wie Putin die ¨übelsten Instinkte seiner Untertanen freisetzt, diese andernfalls mit Gewalt auf Linie bringt, gnadenlos die Zivilbevölkerung massakriert und dafür noch "unverbrüchliche Freunde" wie Xi an seiner Seite findet, von degenerierten Despoten wie Kim und Khamenei ganz zu schweigen -- dass dies alles nicht genügt, den Zorn und die Strafe des Himmels auszulösen, ist schrecklich. Noch schlimmer ist aber, dass diejenigen, die den Bedrängten helfen könnten, es nicht tun. Sie sollen zur Hölle gehen.

Ad J.

Vielleicht müssen 200000 Ukrainische Soldaten sterben, damit die nach Ihnen aufrecht gehen können. Es gibt kein Leben unter der Mafiaknute Russlands, es ist die Herrschaft der Schlächter, der rohen, der Gewalt.

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