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Plädoyer der Mutter eines getöteten Kindes Neun Minuten direkt ins Herz

Rick J. ist angeklagt, weil er die achtjährige Johanna Bohnacker entführte und wohl missbrauchte und tötete. Nun schildert ihre Mutter ihren Schmerz - und zum ersten Mal scheint auch der Täter aufgewühlt.
Gabriele Bohnacker

Gabriele Bohnacker

Foto: Peter Jülich/ DER SPIEGEL

Gabriele Bohnacker ist Juristin und weiß, wie Strafverfahren ablaufen. Es geht um Schuld oder Unschuld eines Angeklagten. Um seine Persönlichkeit, seinen Charakter, seinen Lebenslauf und darum, wie er so weit vom Weg abkommen konnte, dass er vor Gericht landet. Es geht um ein mögliches Motiv und darum, ein gerechtes Urteil zu fällen.

Das Opfer rückt während eines Strafprozesses in den Hintergrund. Für die Angehörigen ist das oft schwer auszuhalten. Für die Eltern eines getöteten Kindes muss es unerträglich sein - neben all den erschütternden Details, die die Beweisaufnahme zu Tage fördert.

Es muss Gabriele Bohnacker Kraft gekostet haben, an jedem Verhandlungstag im Landgericht Gießen nur wenige Meter entfernt von dem Mann Platz zu nehmen, der ihr auf brutalste Weise ihre Tochter Johanna nahm. Gabriele Bohnacker hat es sich selten anmerken lassen.

Doch an diesem Verhandlungstag, an dem die Prozessbeteiligten ihre Plädoyers halten und ihre Strafmaßforderungen verkünden, will sie den Fokus dieses Verfahrens auf die Person lenken, um die es eigentlich geht: ihre Tochter Johanna, ihr acht Jahre altes Kind, das Rick J. am 2. September 1999 im hessischen Ranstadt-Bobenhausen vom Rad zerrte, betäubte, in sein Auto steckte, entführte und womöglich an einem abgelegenen Ort missbrauchte und tötete.

Der 42-Jährige ist wegen Mordes und schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern angeklagt.

Gabriele Bohnacker beginnt: "Das Strafverfahren ist die Bühne des Täters und nicht die des Opfers." Es ist ein Zitat. "Ich glaube, es stammt von Ihnen, Herr Krechel?" Sie blickt zum Verteidiger des mutmaßlichen Mörders, Uwe Krechel, einem wortgewaltigen, extrovertierten Mann.

Angeklagter J., Anwalt Krechel

Angeklagter J., Anwalt Krechel

Foto: Peter Jülich/ DER SPIEGEL

Keinem Täter solle Unrecht geschehen, sagt Gabriele Bohnacker und erklärt, wie sie Rick J. sehe: als gescheiterte Existenz, intelligent, selbstherrlich, frei von Empathie. "Ein Verlierer, der Herr über Leben und Tod gespielt hat." Einer, der sich ein Lügengebilde zurechtgezimmert habe. "Wie es tatsächlich war, weiß nur er selbst." Rick J. habe keine Reue gezeigt, keine Scham.

Sie leiden bis heute

Gabriele Bohnacker erinnert an ihre Tochter Johanna, die kurz vor der Tat in die zweite Klasse gekommen war. Ihre Freunde, ihre Schulkameraden, ihre Geschwister hätten nicht verstanden, was geschehen war; dass Johanna nie mehr zurückkommen wird. Dazu die Angst, selbst zum Opfer zu werden. Es war das Ende unbeschwerter Kindheit.

"Die Familie und engsten Freunde leiden noch immer - auch unter dem Misstrauen", sagt Gabriele Bohnacker. Bis zur Festnahme von Rick J. im Herbst 2017 habe jeder unter Verdacht gestanden. "Wir haben um Hanna getrauert, sie unsäglich vermisst und gelitten. Aber auch wir standen immer im Verdacht." Mit diesem Umstand müsse man erst einmal fertig werden.

Gabriele Bohnacker spricht von einem "eklatanten Einschnitt" für Johannas Schwestern; einem Einschnitt, der das Leben der Familie noch heute beeinträchtige. Die Hoffnung der Mutter ist es, dass die beiden nach dem Urteil auch abschließen können. Es klingt so, als habe sie selbst auch diese Hoffnung, als sei ihre Skepsis aber größer.

Johanna, die jüngste von drei Schwestern, wäre heute 27 Jahre alt. Ihre Mutter fragt sich: Hätte sie studiert? Hätte sie Kinder? Wäre sie Hausfrau? "Ich habe noch ihre Stimme im Ohr. Ich sehe sie am Tisch sitzen beim Essen." So viele Erinnerungen, die sie begleiten, manchmal erfreuen, immer schmerzen.

Die Forderung: lebenslang

Neun Minuten spricht Gabriele Bohnacker. Neun Minuten ins Herz jedes Zuhörers. Neun Minuten für ihr Kind, das Opfer.

Johanna sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, sagt die Mutter. Eine Erkenntnis, die den Schmerz der Familie nicht lindern wird. "Ein so sinnloser Tod", sagt Gabriele Bohnacker am Ende ihres Plädoyers. "Dafür soll ihr Mörder durch eine lebenslange Strafe sein restliches Leben büßen."

Ihr Rechtsanwalt Dietmar Kleiner schließt sich weitestgehend den Ausführungen von Staatsanwalt Thomas Hauburger an, der im Rahmen seines Plädoyers zuvor eindrücklich vorgetragen hatte, warum der Tod Johannas kein Unfall war, sondern Mord.

Hauburger fordert eine lebenslange Freiheitsstrafe für Rick J. "Die Frage ist, ob Ihre Schuld besonders schwer wiegt?", ruft er Rick J. zu, der ihm direkt gegenübersitzt. Rick J. verharrt in der Position, in der er da seit 9.29 Uhr sitzt: Den Blick gesenkt, einen Kugelschreiber in der rechten Hand, als schreibe er. Tut er aber nicht.

Die Tat habe sich lange hingezogen, betont Hauburger. Rick J. habe sich in "ganz besonders egoistischer Weise über den Lebensanspruch" des Kindes hinweggesetzt. Ganz so, wie es Rick J. in einer Vernehmung eingeräumt hatte: "Ich wollte ein Mädchen und das war ein Mädchen."

Ein Radfahrer damals sah Johannas Fahrrad, mitten auf dem Weg. Sie muss laut Rekonstruktion der Ermittler eine Minute zuvor entführt worden sein. Rick J. kommentierte dies einmal so: Wäre der Radfahrer eine Minute früher gekommen, hätte er Johanna nicht entführt. "Wer ist jetzt Schuld, Herr J.: Sie oder der Radfahrer?", fragt Hauburger zynisch und beantragt die besondere Schwere der Schuld.

Hintergrund

Die Verteidiger Uwe Krechel und Thomas Ohm beschreiben ihren Mandanten als Sohn aus gutem Haus, mit besten Voraussetzungen, der durch seinen exzessiven Drogenkonsum nichts mehr im Griff hatte. Der "in der vollkommenen Asozialität und Dissozialität" vor sich hinvegetierte, ohne Korrektiv, völlig isoliert und desorientiert. Sie plädieren auf Totschlag und beantragen die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Ein Strafmaß nennen sie nicht.

Das letzte Wort hat Rick J. Es ist ein grundrechtsgleiches Recht des Angeklagten. Er kann es nicht auf seine Verteidiger übertragen, nur persönlich wahrnehmen. Es ist sein Anspruch auf rechtliches Gehör, seine letzte Gelegenheit, sich zu den Vorwürfen gegen ihn zu äußern. So bleibt der mutmaßliche Täter bis zum Ende eines Strafverfahrens im Mittelpunkt.

Rick J. macht es kurz. Er scheint zum ersten Mal in diesem Verfahren ernsthaft aufgewühlt. "Angesichts des Leids und des Schmerzes, den ich verursacht habe, kann alles, was ich jetzt noch sagen könnte, nur lächerlich klingen."

Gabriele Bohnacker blickt ihn von der Seite an. Als die Vorsitzende Richterin die Sitzung beendet, steht sie auf und zieht ihren Mantel an. Gemeinsam mit ihrem Anwalt verlässt sie das Gericht.

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