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Deutschland Online-Glücksspiel

„Die weitgehende Liberalisierung ist äußerst gefährlich“

Politikredakteur
Diese Regeln gelten ab jetzt für Online-Casinos

Glücksspiel kann süchtig machen. Besonders der Schwarzmarkt profitiert enorm von abhängigen Spielern. Der neue Glücksspiel-Staatsvertrag soll dem entgegenwirken. Online-Casinos sind nun in ganz Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen legal.

Quelle: WELT

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Seit Juli sind Online-Casinos legal, Online-Sportwetten bereits seit einem Jahr. Doch die geplante Kontrolle fehlt. Suchtexperten schlagen Alarm. Auch die Drogenbeauftragte der Bundesregierung ist besorgt.

Der englische Fußballclub Bolton Wanderers setzte im September ein ungewöhnliches Zeichen. Statt weiter mit Anbietern von Sportwetten als Sponsor zusammenzuarbeiten, will der Traditionsverein künftig Hilfsorganisationen im Kampf gegen Spielsucht unterstützen. Im deutschen Profifußball ist davon keine Rede. Im Gegenteil: Immer mehr Vereine und auch die Deutsche Fußball Liga und der Deutsche Fußball-Bund arbeiten intensiv mit Sportwettenanbietern zusammen.

Laut einer Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2019 hat mehr als jeder dritte Deutsche in den vergangenen zwölf Monaten an einem gewerblichen Glücksspiel teilgenommen. Im gesamten deutschen Glücksspielmarkt – neben Sportwetten zählen dazu auch Spielbanken- und hallen, Geldspielautomaten und das weniger suchtanfällige Lotto – lag der Gesamtumsatz im Jahr 2018 bei über 46 Milliarden Euro.

Für virtuelles Glücksspiel wurde der Markt nach Jahren zwischen Illegalität und Duldung erst im Juli dieses Jahres geöffnet. Wenn Anbieter eine deutsche Lizenz erhalten, ist Online-Glücksspiel seit dem Inkrafttreten des neuen Glücksspielstaatsvertrags legal. An der Umsetzung der Regeln zum Schutz vor Spielsucht gibt es jedoch scharfe Kritik.

So berichten Suchthelfer, die Beratungen für die rund 450.000 Menschen mit problematischem oder gar pathologischem Spielverhalten anbieten, dass die im Staatsvertrag vereinbarten Vorschriften noch nicht umfassend umgesetzt werden. Dies gilt etwa für das dort vereinbarte monatliche Einzahlungslimit von 1000 Euro und die Sperrdatei, bei der sich Spieler selbst für mindestens ein Jahr anbieterübergreifend sperren lassen können.

Wer hat den Spielerschutz im Blick?

Bereits 13.989 Spieler haben diese Sperre laut zuständigem Regierungspräsidium Darmstadt seit Juli wahrgenommen. Allerdings können diese teilweise weiter spielen, da unzählige Anbieter noch nicht an die jeweiligen Systeme angeschlossen sind. Und eine im Vertrag vorgesehene gemeinsame Kontroll- und Aufsichtsbehörde der Bundesländer wird erst eineinhalb Jahre nach der Legalisierung, also ab Januar 2023 vollständig arbeitsfähig sein.

Das ärgert auch die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig. „Ohne eine funktionierende, schlagkräftige Aufsichtsbehörde an den Start zu gehen und Suchtgefahren hintenan zu stellen, das ist schlicht und einfach Käse“, sagt die CSU-Politikerin. Ludwigs zentrale Forderung hört sich nach einer Selbstverständlichkeit an: „Als allererstes fordere ich die Durchsetzung und den Vollzug der Regeln, die der Glücksspielstaatsvertrag enthält.“ Sie frage sich, wer die Konzepte zum Jugend- und Spielerschutz „ohne funktionierende Aufsicht“ aktuell im Blick habe.

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Die Bundesländer wollen das nicht gelten lassen. Auf WELT-Anfrage verweisen die Innenministerien darauf, dass für die künftigen Zuständigkeiten der gemeinsamen Glücksspielbehörde Übergangslösungen geschaffen worden seien und für sämtliche Bereiche von Glücksspielen im Internet eine funktionierende Aufsichtsbehörde bestehe.

Doch auch Suchthelfer und Suchtforscher schlagen Alarm. „Es ist unbegreiflich, dass Anbietern, die jahrelang illegal tätig waren und dafür nicht sanktioniert werden, nun der rote Teppich der Legalität ausgerollt wird“, sagt Ilona Füchtenschnieder, Vorsitzende des Fachverbands Glücksspielsucht. „Die weitgehende Liberalisierung ist äußerst gefährlich. Die Glücksspielbranche besteht nicht aus Chorknaben, sondern macht ihr Geschäft damit, andere Menschen dazu zu bringen, sich zu ruinieren.“

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Spielsucht ist eine schwerwiegende Störung, die das Leben stark beeinträchtigen kann. Viele Betroffene vernichten ihre gesamten Existenz – und einige sogar ihr Leben. So ist Spielsucht unter allen Suchtkrankheiten diejenige, die die höchsten Raten an Verschuldung und Suizidalität aufweist. Häufig leidet der Beruf bis zum Jobverlust, es kommt zu Beschaffungskriminalität. „Das führt zu volkswirtschaftlichen Kosten, die die Gemeinschaft zu tragen hat, während die Gewinne beim Anbieter oder Staat bleiben“, sagt Glücksspielforscher Tobias Hayer von der Universität Bremen.

Werbeerlaubnis? Nicht erforderlich

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Für Suchtberaterin Füchtenschnieder ist klar: Ihrer Ansicht nach ist eine „sehr starke Lobby“ für die liberale Gesetzgebung verantwortlich, die der Politik die hohen Steuereinnahmen schmackhaft gemacht habe. Laut Statistischem Bundesamt nahm der Fiskus im Glücksspielmarkt im Jahr 2019 etwa 5,4 Milliarden Euro an Steuern und Abgaben ein.

Tobias Hayer ist sicher, dass die fiskalischen Einnahmen durch den Staatsvertrag weiter steigen. Das Mehr werde den Staat aber nur kurzfristig freuen. „Die Folgeschäden – Spielsucht, Kriminalität, Geldwäsche – werden erst zeitverzögert sichtbar. Der Staatsvertrag fördert in erster Linie die Interessen der Anbieter und nicht die Belange des Gemeinwohls.“

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Bezüglich der virtuellen Glücksspiele verweisen Suchtexperten auf ein erhöhtes Gefährdungspotenzial durch ständige Verfügbarkeit und schlechtere Selbstschutzmaßnahmen. Befürworter liberaler Regelungen hingegen betonen neben lukrativen Einnahmequellen für Unternehmen und Staat und besseren Regulierungsmöglichkeiten durch das Ende der juristischen Grauzone eine längst überfällige Anpassung der Lebensrealitäten – so waren schon lange vor dem Staatsvertrag Hunderte Angebote in deutscher Sprache online, allerdings mit Lizenzen aus dem Ausland.

In der Kritik steht auch, dass gesonderte Werbeerlaubnisse für Glücksspiele seit Juli nicht mehr erforderlich sind. Diese dürfen im Rundfunk und Internet nun grundsätzlich zwischen 21 und sechs Uhr beworben werden, für Sportwetten gibt es keine zeitliche Begrenzung. „Für derart gefährliche Güter sollte keine Werbung gemacht werden dürfen“, sagt Suchtberaterin Füchtenschnieder. Solche Werbung könne auch Genesene stark triggern und Rückfälle auslösen.

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